The Roads Not Taken

Der Titel des neuen Films von Regisseurin Sally Potter verweist auf die Wege, die man nie beschritt, auf die verpassten Chancen und auf die ausgelassenen Möglichkeiten.

Leo (Javier Bardem) leidet an fortgeschrittener Demenz. Man erfährt nicht wie lange er bereits an dieser Krankheit leidet. Ein Charakteristikum des geistigen Verfalls ist die Tatsache, dass die Patienten selten erinnern was vor einer Stunde geschah, wen sie vor zwei Stunden sahen oder was sie vor 10 Minuten gesagt haben. Aber sehr häufig können sie Erinnerungen aus ihrem Leben, die 10, 20 oder mehr Jahre zurückliegen, in ihrem Gedächtnis abrufen.

Und während Leo, gemeinsam mit seiner wohlmeinenden, aufopferungsvollen Tochter Molly (Elle Fanning), sich durch das lärmende New York quält, zeigt die Spielleiterin Potter in Rückblenden Stationen seines Lebens. Erinnert sich Leo? Zumindest das Ende des Film lässt diesen Schluss zu.

Leo im heftigen Streit mit seiner ex-Frau Dolores (Salma Hayek) in Mexiko, Leo als Schriftsteller viele Jahre später, als er die junge hübsche Anni (Milena Tscharntke) trifft. Es geht in Leos Kopf alles durcheinander, wohl kann er die Vergangenheit nicht in die richtige Reihenfolge bekommen und die Gegenwart überfordert ihn. Liebevoll hilft Molly ihm, den Zahnarzt und den Augenarzt zu besuchen. Bis Leo schließlich durch eine Selbstverletzung im Krankenhaus landet und vom Arzt von oben herab behandelt wird. Dort taucht auch Mollys Mutter (Laura Linney), Leos zweite Frau, auf; sarkastisch, voller Bitterkeit über die ehemalige Ehe mit dem Vater ihrer Tochter. Nur Molly und die empathische Haushälterin und Pflegerin von Leo, Xenia, kümmern sich um den kranken Mann mit viel Herz und Verstand.

Eine schöne Szene zwischen Leo und Molly ist die Situation, in der Leo die Hose wechseln muss auf einer Toilette. Anscheinend ist es Leo peinlich vor seiner leiblichen Tochter. Doch diese demonstriert ihrem Vater sehr einfühlsam, dass dies doch zwischen ihnen beiden gar kein Problem sein muss. Bezaubernd.

Trotzdem schafft es Sally Potter nicht gänzlich große Gefühle beim Zuschauer zu wecken zu dieser ambivalenten Figur. Ist er nur eine Spiegelung für uns alle, von uns allen? Es ist nicht wichtig, ob wir gut oder weniger gut waren im Leben, ob wir Recht hatten oder nicht. Was zählt am Ende sind die entgangene Optionen. Konnten wir die Gunst einer Stunde nutzen? Oder haben wir zu häufig die falschen Entscheidungen getroffen? Diese Gedanken reflektiert man nun mal, wenn man im Herbst seines Lebens steht.

Der Film profitiert nicht zuletzt von den schauspielerischen Leistungen der beiden Hauptakteure Bardem und Fannning.

Sehr schön dazu die Kulissen. Gedreht wurde in Andalusien und in New York. Die Kamera führte der sehr erfahrene Ire Robbie Ryan (u a American Honey, Slow West, The Favorite, und zuletzt Marriage Story!).

Sally Potter führte nicht nur Regie, sonder schrieb das Drehbuch, verantwortete die Musik und editierte gemeinsam mit zwei Kollegen den Film.

Sehenswerte melancholische Biografie.

 

4 ½ Sterne von 7

Walter George

Titel: The Roads Not Taken

Herstellung: UK/USA/Schweden 2020

Länge: 85 Min.

Regie: Sally Potter

Darsteller: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney, u.v.a.

Drehbuch: Sally Potter

Musik: Sally Potter

Kamera: Robbie Ryan

Schnitt: Emilie Orsini, Sally Potter, Jason Rayton

PS 1 Der Filmtitel ist an das Gedicht The Road Not Taken von Robert Frost angelehnt. Als ursprünglicher Name des Films war Molly vorgesehen.

https://www.poetryfoundation.org/poems/44272/the-road-not-taken

PS2 Milena Tscharntke, geboren 1996 in Hamburg, bestand 2014 das Abitur. Ihre erste Fernsehrolle spielte sie im Alter von 8 Jahren. Sie erhielt eine ‘Goldene Kamera‘ sowie den Studio-Hamburg-Nachwuchspreis. Neben Rollen im Fernsehen und Kino spielt sie am renommierten Thalia Theater Hamburg. The Roads Not Taken ist ihr erster internationaler Auftritt.

PS3 Premiere 26. Februar 2020 – Berlinale, Berlin. Wettbewerbsbeitrag!

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