The Dressmaker

1951. Irgendwo im australischen Outback. Ein kleine, schmutzige und einsame Stadt. Einige Wohnhäuser, die Polizeistation, das Rathaus, der Laden. An einem Abend, es ist schon dunkel, steigt aus dem Zug eine junge Frau mit wenig Gepäck. Sie ist elegant gekleidet, makellos frisiert und trägt Make-up. Zunächst einmal zündet sie sich eine Zigarette an und schaut in die Runde. Dann sagt sie „I‘m back, you bastards!“

Myrtle, die sich jetzt Tilly nennt, kehrt nach 25 Jahren in ihren Geburtsort zurück. Damals geschah das Unglück – der kleine Stewart Pettyman, Sohn des Bürgermeisters und seiner Frau Marigold, verunglückte tödlich. Als Täterin wurde Myrtle, das kleine Mädchen, überführt und verbannt. Über Melbourne kam sie nach Madrid, Mailand und schließlich nach Paris. Dort stieg sie auf in die erste Riege der Haute Couture mit ihren Kreationen.
Und jetzt ist Myrtle zurück – um sich an diesem Ort und seinen Bewohnern zu rächen.

Auf subtile Weise nimmt sie langsam die Frauen mit ihren wunderschön geschneiderten Kleidern für sich ein. Und die Männer sind nicht einmal mehr in der Lage ordentlich Rugby zu spielen, wenn Myrtle in einem aufreizenden Kleid am Spielfeldrand zuschaut.

Ein Drama, das besticht durch seine Charaktere: die coole Myrtle (Kate Winslet, eine souveräne Vorstellung), die völlig heruntergekommene im Dreck sitzende Mutter Molly, die ihre eigene Tochter verleugnet (exzellent gespielt von Judy Davis, eigentlich ist sie der Star dieser Erzählung), der Polizist der seinerzeit Myrtle überführen konnte und immer mal gern Frauenkleidung trägt (Hugo Weaving, wundervoll), Teddy der Sportler und scheinbare Gutmensch (Liam Hemsworth), der zwielichtige Bürgermeister Evan Pettyman (Shane Bourne), das hässliche Entlein Gertrude ‚Trudy‘ (Sarah Snook) – alle haben etwas zu verbergen und alle haben viel zu verlieren.
Da wurde jede Rolle bestens besetzt, ein Glücksfall.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der Australierin Rosalie Ham. Das Drehbuch schrieb dann der aus Brisbane stammende P. J. Hogan. Er hatte seinen großen Erfolg mit dem Script für „Muriels Hochzeit“.

Gute Inszenierung von Jocelyn Moorhouse, die 1960 in Melbourne zur Welt kam. Ihr Durchbruch als Regisseurin gelang ihr 1995 mit „How to Make an American Quilt“ mit Wynona Ryder, Ellen Burstyn und Anne Bancroft!

Die Schwäche des Films rührt von der Tatsache dass er sich nicht ganz entscheiden kann – ruhiges Aufklärungsdrama, blutiger Rache-Feldzug oder CrimCom (criminal comedy). Einige Szenen, die zum Schmunzeln einladen, scheinen nicht hinein zu passen. Elles und jeder in diesem Film scheint verrückt zu sein. Myrtle/Tilly selbst glaubt, sie sei verflucht – und die Ereignisse scheinen ihr Recht zu geben.

Trotzdem, eine gute Story mit überraschenden Wendungen. Eine hochkarätige Auswahl an Schauspielern, eine solide Regie-Arbeit. An der Kamera der erfahrene Donald McAlpine (ebenfalls geboren in Australien), Musik vom Routinier David Hirschfelder (aus Ballarat, Australien!) (Filmmusik komponiert u. a. für Shine, Australia, The Railway Man).

Faszinierende Aufarbeitung eines Verbrechens, das viele Jahre her ist. Und trotz allem seitdem wie eine Schatten auf diesem gottverlassenen Nest im Nirgendwo liegt. Und am Ende ist nichts mehr wie es wa(h)r.

Die Kritiken zum Film waren durchaus ambivalent geprägt. So vergab „The Guardian“ lediglich 2 von 5 möglichen Sternen. Der Kritiker des „Hollywood Reporter“ definierte sein Urteil über den Film als „a glossy, goofy, guilty pleasure“.
Und die Roger-Ebert-Seite zog das Fazit: „I can’t say this is the best film you will see all year, but I can assure you won’t see another one like it again for a long time.“ (Zweieinhalb Sterne von vier möglichen.)

Eine Empfehlung von ‘Filmsicht‘ für einen spannenden und überraschenden Film-Abend.

5 von 7 Sternen ★★★★★

Rick Deckard

Titel: „The Dressmaker“
Herstellung: USA 2015
Länge: 1h 59min
Regie: Jocelyn Moorhouse
Darsteller: Kate Winslet, Judy Davis, Liam Hemsworth, Hugo Weaving, u. v. a.
Drehbuch: P.J. Hogan u. Jocelyn Moorhouse; nach einem Roman von Rosalie Ham
Musik: David Hirschfelder
Kamera: Donald McAlpine
Schnitt: Jill Billcock

Australien jubelte. Bei den ‘Australian Academy Awards 2016‘ erhielt „The Dressmaker“ folgende Preise:

• Winner Favourite Australian Film (Audience Choice Award)
• Best Lead Actress – Kate Winslet
• Best Supporting Actress – Judy Davis
• Best Supporting Actor – Hugo Weaving
• Best Costume Design

Ferner waren nominiert:

• Best Film
• Best Direction
• Best Cinematography
• Best Editing
• Best Sound
• Best Original Music Score
• Best Production Design
• Best Supporting Actress – Sarah Snook

Anmerkung:
Dies ist Jocelyn Moorhouse‘ erster Film seit 18 Jahren („A Thousand Acres“, 1997). Moorhouse ist verheiratet mit Autor und Regisseur P. J. Morgan. Sie haben zwei Kinder. Beide Kinder sind Autisten. Deshalb hat Jocelyn Moorhouse es vorgezogen, sich um ihre Sprösslinge zu kümmern.

Siberia

Clint (Willem Dafoe) lebt in einer alten Hütte, irgendwo im ewigen Schnee in den Tundren Sibiriens. Mit seinem alten zerfurchten Gesicht steht er hinter der Theke und gießt seinen wenigen Gästen wortlos Schnaps ein. Dann betreten eine russische Babuschka und ihre hübsche schwangere Tochter das Haus und verlangen Wodka – und etwas verändert sich. Die Stimmung, die Atmosphäre und die besondere Magie des Raums. Schon bald bietet die alte Frau ihre Tochter zum Geschlechtsakt an und man sieht Clint, wie er den nackten dicken Bauch der jungen Frau küsst und liebkost.

Als er nachts unten im Keller ein Geräusch vernimmt, geht er hinunter um nachzuschauen. Über einen Stein-Vorsprung stürzt er plötzlich ab und es geht tiefer und immer tiefer …… Für Clint beginnt eine lange Reise durch seine eigene Vergangenheit und zurück.

Ist es ein Traum, oder sieht Clint vor seinem Tode noch einmal sein Leben an sich vorbei-ziehen? Von den eisigen Weiten Sibiriens über bewaldete Hügel bis in heiße Sandwüsten geht der Seelentrip. Clint trifft seine ex-Frau, seine Mutter, seinen Vater und sich selbst als kleinen Jungen.

Großartige Landschaften, wundervolle Bilder; faszinierend und beunruhigend zugleich. Betörendes buntes rauschhaftes Gemälde eines Lebens.

Die taz schrieb „ …. Siberia erscheint wie eine Halluzination ….. “. Und rogerebert.com urteilte in einer Kurz-Kritik „An exploration into the language of dreams.“

Bezauberndes und verführerisches Werk des Drehbuchautors und Regisseurs Abel Ferrara. Sehr eng befreundet mit Willem Dafoe (beide Familien wohnen zeitweise in Rom, ihre Wohnungen liegen in derselben Straße). Es ist die sechste Zusammenarbeit der beiden Filmschaffenden. Dafoe wird auf seine alten Tage immer besser. Man sehe nur Filme wie The Florida Project, What Happened to Monday?, Van Gogh, Der Leuchtturm und Motherless Brooklyn. Der vierfach Oscar-Nominierte Darsteller spricht in Siberia sehr wenig. Alles steht in seinem Gesicht geschrieben. Jedes Gefühl, jeder Gedanke, jede verlorene Hoffnung, jede verpasste Chance.

Neben den fantastischen Bildern muss die exzellente Musik des New Yorker Komponisten Joe Delia Erwähnung finden. Er war schon 1992 für Ferraras „Bad Lieutenant“ für den Soundtrack verantwortlich.

Gedreht wurde in Süd-Tirol und Mexiko. Studio-Takes in München.

 

5 von 7 Sternen ★★★★★

Walter George

 

Titel: „Siberia

Herstellung: Italien, Deutschland, Mexiko 2020

Premiere 24. Februar 2020 – Berlinale, Berlin

Länge: 92 Min.

Regie: Abel Ferrara

Darsteller: Willem Dafoe, Dounia Sichov, Simon McBurney, u.a.

Drehbuch: Abel Ferrara und Christ Zois

Musik: Joe Delia

Kamera: Stefano Falivene

Schnitt: Leonardo Daniel Bianchi, Fabio Nunziata

PS In der Begründung des FFF Bayern heißt es: ‘„Siberia“ ist die moderne Odyssee eines gebrochenen Mannes, der vor der Welt flüchtet, aber in seiner selbstgewählten Isolation in der sibirischen Tundra keinen inneren Frieden findet. Um sich aus den dunklen Abgründen seiner selbst zu befreien, ist er gezwungen, sich mit den Dämonen seiner Träume, Erinnerungen und Visionen zu konfrontieren‘